Manka, I. (2015). Architektur der Vielen : das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg - ein kollektiver Erinnerungsort [Dissertation, Technische Universität Wien]. reposiTUm. https://doi.org/10.34726/hss.2015.30860
Schauplatz und Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, das aufgrund der hier zwischen 1933 und 1938 abgehaltenen Massenversammlungen und den dafür geplanten und zum Teil ausgeführten monumentalen Baulichkeiten einen der prominentesten und wichtigsten Orte im nationalsozialistischen Deutschland darstellte. Als Erinnerungsort wird es üblicherweise als Ort der Täter_innen kategorisiert, an dem sich die NS-Elite der Gefolgschaft durch die ansonsten passiven Massen versicherte und ihre Macht auch in Form der hier vorhandenen sogenannten Herrschaftsarchitektur zu zeigen suchte. Diese Fokussierung auf die Täter_innenschaft weniger Hauptakteur_innen bietet jedoch nur eine unzureichende Erklärung für die während des NS-Regimes erfolgte direkte oder indirekte Beteiligung eines Großteils der deutschen Bevölkerung an den NS-Gesellschaftsverbrechen. Die Funktion der hier vorzufindenden Architektur wird damit nur einseitig erfasst, wenn ihre intendierte wie reale Wirkung als Gemeinschaftsarchitektur ignoriert wird. Zudem stellt die im Bereich des Reichsparteitagsgeländes feststellbare Kontinuität in der Abhaltung von Massenversammlungen, für die hier auch vor und nach dem NS-Zeitintervall entsprechende Räumlichkeiten geschaffen wurden, den NS-Ort in einen Zusammenhang mit der Entwicklung einer modernen Massengesellschaft in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Frage der gesellschaftlichen Mittäter_innenschaft, Modernität sowie Kontextualisierung des Nationalsozialismus sind jedoch Bereiche, die im vorherrschenden Kanon des kollektiven Erinnerns an die NS-Zeit vernachlässigt, wenn nicht sogar vollständig ausgeblendet sind. Die Besonderheit dieses Erinnerungsortes, an dem die Konstruktion einer politischen Gemeinschaft eine herausragende Rolle spielte, wird so nicht berücksichtigt und sein möglicher Beitrag für eine vollständigeres und damit von heute aus nachvollziehbareres Bild des Nationalsozialismus nicht genutzt. Die gängige Konzeptualisierung dieses Erinnerungsorts als Ort der Täter_innen basiert insofern auf einer verkürzten Darstellung der NS-Gesellschaft und bietet daher auch nur eine unzureichende Basis für Entscheidungen im Umgang mit den hinterlassenen NS-Baulichkeiten. Um diese bislang vernachlässigten Bereiche sichtbar zu machen und für eine Neueinschätzung der geschichtspolitischen Bedeutung des Geländes nutzen zu können, wählt diese Arbeit die Form eines Weges, der in fünf Stationen (SS-Kaserne/Merrell Barracks/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kongresshalle/Dokumentationszentrum, Zeppelintribüne, Volkspark Dutzendteich, Stadion) über den Erinnerungsort Reichsparteitagsgelände führt. In unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen (Kollektives Erinnern, Schwieriges Erbe, Architektur und Politik, Öffentlicher Raum, Die Vielen als Masse) werden hierfür relevante Vorstellungen und Formen von politischer Gemeinschaft, deren räumliche Manifestationen sowie die Konsequenzen für das kollektive Erinnern in der Nachfolgegesellschaft der Täter_innen untersucht. Hinter dieser Vorgangsweise steht die Zurückweisung der Idee, Bestätigung und Festigung einer gemeinschaftlichen Identität als Sinn eines Erinnerungsort zu sehen. Dagegen soll in den fünf Stationen die Produktion des Erinnerungsortes sichtbar gemacht werden, indem seine Deutung, Definition und Gestaltung als politischer und damit änderbarer Prozess wahrgenommen wird. Die Arbeit fragt deshalb bewusst nach den Beteiligten, nach den Inhalten sowie nach den gewählten Darstellungsformen innerhalb des Herstellungsvorgangs. Dies meint auch den sogenannten Umgang mit der NS-Architektur dieses Ortes, wofür in 4 dieser Arbeit der Fokus auf die Handlungsmacht von Architektur im sozialen Raum gerichtet wird, um eine neue Sichtweise auf die politische Rolle von Architektur zu ermöglichen. Die in den Stationen erarbeiteten Erkenntnisse und alternativen Denk- und Handlungsmodelle bilden einen Beitrag für die dringend notwendige Neupositionierung des Erinnerungsorts Reichsparteitagsgelände, die der besonderen Bedeutung des Geländes als Topografie, in der sich wesentliche gemeinschaftliche Dynamiken moderner Gesellschaften performativ wie räumlich manifestierten, gerecht wird. Die Arbeit zeigt Möglichkeiten, wie diese Neupositionierung als Ausgangspunkt für die Entwicklung erinnerungspolitischer Praktiken dienen kann, die diese Besonderheit sowohl inhaltlich integrieren und kritisch reflektieren als auch als demokratiepolitischen Anspruch an die kollektive Gestaltung des Produktionsprozesses dieses Erinnerungsortes wahrnehmen. Nicht zuletzt bietet diese Arbeit damit eine Basis für das längst fällige städtebauliche Gesamtkonzept für das Areal, das die kollektiven Erholungs- und Erinnerungsfunktionen des Geländes gegen wachsende Flächenansprüche aufgrund ökonomischer Interessen schützt.
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The site and object of investigation of this work is the former Nazi Party Rally Grounds in Nuremberg. The mass gatherings that took place here between 1933 and 1938 and the planned and partially completed monumental buildings erected on the site made it one of the most prominent and important places in Nazi Germany. As a place of remembrance it is usually categorized as a place that commemorates the perpetrators; a place where the Nazi elite sought to ensure the allegiance of the passive and innocent masses by demonstrating its power in the form of its imposing architecture. However, the tendency to focus on and conflate this site exclusively with the actions and ideology of a few elite actors gives an insufficient explanation for the direct or indirect participation of the majority of the German population in the commission of Nazi crimes. Furthermore, the function and agency of the Nazi buildings as 'community architecture' is ignored. In addition, hosting mass events and building appropriate facilities is not only a Nazi phenomenon, but can be found both prior to and after the Nazi interval as well. This attention to the mass is a key feature of this site, connecting the Nazi period with the development of a modern mass society in Germany and referring so to the modern elements of National Socialism. However, societal complicity, the question of modernity and the contextualization of National Socialism are often neglected if not completely omitted from the contemporary canon of collective remembrance. In other words, the characteristics of this memorial site as one intimately connected to the construction of a political community is rarely considered, thereby leaving us with an incomplete understanding of National Socialism and Nazi Society and an insufficient basis for decisions concerning the handling of the bequeathed Nazi architecture. To make these neglected domains visible and to use them for a re-evaluation of the significance of the grounds in terms of its history and politics, this work focuses on five architectural structures (SS-Kaserne/Merrell Barracks/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kongresshalle/Dokumentationszentrum, Zeppelintribüne, Volkspark Dutzendteich, Stadion) at the Nazi Party Rally Grounds. The work approaches these structures according to several interrelated priorities; collective remembrance, difficult heritage, architecture and politics, public space and the many as mass. Relevant notions and forms of political community, their spatial manifestations as well as the consequences for the collective remembrance of a subsequent society of perpetrators are investigated. By embracing this approach, the notion that the main purpose of a site of memory is to affirm and reify a common identity will be rejected. In contrast, the study of the five structures intends to make the production of the memorial site visible by approaching its interpretation, definition and shaping as a political and therefore.changeable process. The work purposely interrogates the participants, the contents and the chosen forms of representation within this production process. This also applies to the so-called handling of the Nazi architecture of this site. The work focuses 6 on the agency of architecture in social space and offers a new perspective on the political role of architecture. The knowledge and the alternative models of thinking and agency illuminated through the study of these structures will be a contribution to the necessary re-positioning of the Nazi Party Rally Grounds as a memorial site. This re-positioning will have to consider the exceptional significance of the grounds as a topography in which crucial collective dynamics of modern societies manifest themselves performatively and spatially. The work shows how this re-positioning can function as a starting point for the development of a politics of remembrance that integrates and critically reflects on the exceptionality of this memorial site at the level of content, while simultaneously illustrating that the collective production of this site evidences a form of democratic aspiration. Finally, this work forms the basis for the formulation of a long overdue urban masterplan needed to protect the recreational and memorial functions of the grounds against growing economic interests claiming more and more plots.
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