dc.description.abstract
Graffiti sind voller polarisierender Gegensätze. Ständig sichtbar in urbanen Lebensräumen sind sie auch sehr vergänglich. Von vielen gehasst, von einigen geduldet, von manchen geliebt. Trotz der herausragenden Rolle im öffentlichen Diskurs und im öffentlichen Raum gibt es vergleichsweise wenige wissenschaftliche Initiativen, die sich mit dem, im wahrsten Sinne, vielschichtigen Phänomen Graffiti beschäftigen. Dies ist überraschend, wenn man den Reichtum an Inhalten bedenkt, den Graffiti darstellen. Inzwischen gibt es immer mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die (moderne) Graffiti als kulturelles Erbe betrachten, das linguistische, anthropologische, kriminologische, ethnografische, historische und viele andere Bereiche berührt. Unabhängig von der Position in diesem Diskurs fehlt es bisher an soliden Daten für fundierte Analysen zum Thema Graffiti. Zwar gibt es einzelne Dokumentationsprojekte, diese weisen jedoch häufig Lücken oder mangelnde Objektivität auf. In dieser Dissertation wird mit Hilfe der Photogrammetrie ein methodischer Rahmen entwickelt, um die Basis für eine umfassende Datengrundlage für eine tiefere Auseinandersetzung mit Graffiti zu schaffen.Diese Dissertation untersucht den Wiener Donaukanal, mit ca. 13km Länge eine der weltweit größten zusammenhängenden Graffitilandschaften. Eine zentrale Herausforderung der Graffiti-Dokumentation ist die Identifizierung neuer Werke, die aufgrund der großen Fläche und schnellen Veränderungen besonders zeitaufwändig ist. Um diesen Prozess zu verbessern, wurde eine automatisierte, bildbasierte Methode zur Erkennung von relevanten Veränderungen entwickelt. Das Verfahren nutzt einen inkrementellen Bündelblock und synthetische Kameras zur Erzeugung synthetischer ko-registrierter Graffitibilderpaare. Diese fließen in eine hybride Änderungserkennungspipeline ein, die pixel- und merkmalsbasierte Methoden kombiniert. Der Ansatz wurde an einem öffentlich verfügbaren Referenzdatensatz mit 6902 Bildpaaren validiert, der im Rahmen dieser Arbeit erstellt wurde. Mit einer Genauigkeit (accuracy) von 87% und einer Sensitivität (recall) von 77% zeigen die Ergebnisse, dass der vorgeschlagene Arbeitsablauf zur Erkennung von Veränderungen neu hinzugefügte Graffiti in einer Graffitilandschaft detektieren kann und somit eine umfassendere Graffitidokumentation unterstützt.Neben der Identifikation neuer Graffiti ist die räumliche und zeitliche Dekontextualisierung eine der größten Herausforderungen in der Graffiti-Dokumentation, da Graffiti meist an Ort und Zeit gebunden sind. Fotografien allein reichen nicht aus, um diesen Kontext zu bewahren. Diese Studie untersucht daher den Einsatz photogrammetrischer Techniken zur besseren Erfassung des räumlichen und zeitlichen Bezugs. Orthophotos erweisen sich als besonders geeignet, da sie eine präzise Georeferenzierung ermöglichen und frei von topografischen und perspektivischen Verzerrungen sind und die Linsenverzeichnung korrigiert wird. Zur effizienten Umwandlung großer Bildmengen in Orthophotos wurde ein Workflow entwickelt und in der Software AUTOGRAF (AUTomated Orthorectification of GRAFfiti photos) implementiert. AUTOGRAF nutzt einen inkrementellen Bündelblock-Ansatz, um neue Fotos zu orientieren, daraus aktuelle 3D-Modelle der Szenen zu generieren und schließlich die Bilder zu orthorektifizieren. In einem Experiment mit 826 Fotos, die insgesamt 100 neue Graffiti abbilden, zeigte sich, dass AUTOGRAF für 95% der Graffiti zufriedenstellend Orthophotos generiert und damit auch die Datenbasis für eine 3D-Webplatform liefern kann, um Graffiti in ihrem ursprünglichen, wenn auch virtuellen, Kontext darzustellen.Zusätzlich zu den Studien entlang des Donaukanals widmet sich diese Dissertation einer Fallstudie zur Dokumentation von Graffiti von Migranten und Migrantinnen in heimlichen Migrationsstationen an der türkischen Westküste, einer Schlüsselregion auf der gefährlichen Route von der Türkei nach Griechenland. Grundlage für diese Studie war eine 12-tägige Forschungsreise, in der zwei verlassene, von Migranten und Migrantinnen genutzte Gebäude untersucht wurden. Die dort gefundenen Graffiti sind stille Zeugen dieser prägenden Erfahrungen. Angesichts ihres vergänglichen Charakters sowie der schwierigen Bedingungen vor Ort - begrenzter Zugang, schlechte Beleuchtung und Stress – stellte die Dokumentation besondere Schwierigkeiten dar. Die meist mit Kreide, Steinen oder Lippenstift angebrachten Graffiti und die schnell verfallenden Gebäude machen eine systematische Erfassung umso dringlicher. Durch die Bewahrung dieser fragilen Spuren in Form von Orthophotos und texturierten 3D-Modellen trägt diese Studie zu einem tieferen Verständnis zeitgenössischer Migration und ihrer verborgenen Erzählungen bei. Sie dient zugleich als Sammlung von Primärbelegen für Ereignisse, die nicht nur individuelle Schicksale prägen, sondern auch den öffentlichen Diskurs und die politische Agenda beeinflussen.Die vorgestellten Studien zeigen die Vielfältigkeit des Themas Graffiti und die diversen Möglichkeiten, die die Photogrammetrie bietet um dieses flüchtige Kulturerbe (digital) zu bewahren. Durch die Vorstellung und freien Verfügungstellung dieser Ansätze und Implementierungen soll diese Arbeit sowohl Graffiti-Enthusiasten und Enthusiastinnen als auchWissenschaflter undWissenschaftlerinnen Unterstützung und Inspiration für die Dokumentation dieser einzigartigen Form des menschlichen Ausdrucks bieten.
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