Viele heterogene Materialien weisen Mikrostrukturen auf, die über mehrere Größenordnungenhierarchisch organisiert sind. Es ist von grundlegendem wissenschaftlichem Interesse in der Ingenieurmechanik, quantitative Zusammenhänge zwischen mikrostrukturellen Eigenschaften und dem makroskopischen Verhalten solcher Verbundwerkstoffe herzustellen. Diesem Interesse widmet sich der theoretische Teil der vorliegenden Arbeit. Er ist methodisch in der Kontinuumsmikromechanik verwurzelt und innovativen Zugängen zur „Spannungsmittelungsregel“und den „Verzerrungs-Konzentrationstensoren“ gewidmet. Letztere machen Skalenübergänge möglich, z.B. ermöglichen sie (i) das Herunterskalieren von Makroverzerrungen, die repräsentativen Volumenelementen von mikroheterogenen Materialien eingeprägt werden, zu den Verzerrungen der mikrostrukturellen Bestandteile, sowie (ii) das Hochskalieren der elastischen Steifigkeiten und der Eigenspannungen der mikrostrukturellen Bestandteile auf ihre makroskopischen Gegenstücke.Zementgebundene Materialien stellen eine besondere Herausforderung für die Mehrskalenmodellierung dar. Aufgrund der chemischen Reaktion zwischen dem Wasser und dem Bindemittel weisen sie im frühen Materialalter sich entwickelnde Mikrostrukturen auf. Die schlussendlich geformten Mikrostrukturen bestehen aus Festkörperbestandteilen und Poren mit charakteristischen Größen, die sich über vier Größenordnungen erstrecken: von einigen Duzend Mikrometern bis zu einigen wenigen Nanometern. Viele makroskopische Eigenschaftenzementgebundener Materialien resultieren aus physikalisch-chemischen Prozessen, die auf der Nanoskala ablaufen. Diesen Aspekten widmet sich der Anwendungsteil der vorliegenden Arbeit.Er bezieht sich auf zwei herausfordernde Themen der Mehrskalenmodellierung von Zementsteinen:die Entwicklung der Volumenanteile der mikrostrukturellen Bestandteile im frühen Material alter und sorptionsinduzierte makroskopische Volumenänderungen im ausgehärteten Zustand.Die vorliegende Arbeit stellt eine Synthese zwischen grundlegenden Entwicklungen und anspruchsvollen Anwendungen auf dem Gebiet der Mehrskalenmechanik dar. Nach einer allgemeinen Einführung widmen sich drei Kernkapitel den theoretischen Arbeiten. Die verbleibenden zwei Hauptkapitel sind den praktischen Anwendungen gewidmet, gefolgt von allgemeinen Schlussfolgerungen.Kapitel 2 widmet sich der Überarbeitung des Fundaments für eine der zentralen Säulen der Kontinuumsmikromechanik: der Herleitung der Spannungs- und Verzerrungs-Mittelungsregeln.Traditionell werden diese Regeln aus Gleichgewichts- und Kompatibilitätsbedingungen abgeleitet,zusammen mit Randbedingungen in den mikrosopischen Verschiebungen und den mikroskopischen Spannungen, die mit homogenen makroskopischen Verzerrungen bzw. homogenenmakroskopischen Spannungen verbunden sind. An der Oberfläche von Körpern können jedoch streng genommen nur Verschiebungen oder Spannungen vorgeschrieben werden, so dass sich die verbleibende Mittelungsregel als bloße Definition herausstellt. Die vorliegende Arbeit schlägt einen Weg vor, auf eine solche Definition zu verzichten, und greift dabei auf das Prinzip der virtuellen Leistungen als Konzept zur Gewährleistung des mechanischen Gleichgewichts zurück.Die Verzerrungs-Mittelungsregel wird traditionell hergeleitet: ausgehend von homogenen Verzerrungsrandbedingungen. Dann werden beliebige, differenzierbare, so genannte virtuelle Mikrogeschwindigkeiten an der Berandung eines repräsentativen Volumenelements vorgegeben,die mit beliebigen homogenen virtuellen Makrogeschwindigkeiten und Makroverzerrungsraten verknüpft sind. Letztere sind multilinear mit den mikroskopischen virtuellen Verzerrungsratenfeldern innerhalb des repräsentativen Volumenelements verknüpft. In diesem Setting führtdie Äquivalenz der makroskopischen und der mikroskopischen Ausdrücke für die virtuellen Leistungsdichten auf die bekannte Spannungsmittelungsregel und im Falle mikroskopisch gleichförmiger Volumenkraftfelder auf eine Volumenkraftmittelungsregel.Kapitel 3 bezieht sich auf die Homogenisierung von repräsentativen Volumenelementen komplexer Materialmikrostrukturen, die nicht zufriedenstellend durch endliche Anzahl homogener Teilbereiche dargestellt werden können. Der Beitrag der vorliegenden Arbeit ergänzt bestehende Methoden, die von den Randbedingungen des repräsentativen Volumenelementsabhängen und keinen direkten Zugang zu den Makro-Mikro-Beziehungen im Sinne von Konzentrationstensoren bieten. Als Abhilfe wird ein Homogenisierungsverfahren vorgestellt, dasauf Greenschen Funktionen fußt. Beim neuen Verfahren werden aus Hilfsproblemen gewonnene mikroskopische Verzerrungen kraft Mittelungsregel über das repräsentative Volumselement den makroskopischen Verzerrungen zugeordnet. Dabei wird das Hilfsproblem auf einer homogenen unendlichen Matrix definiert. Letztere ist homogenen Hilfsdehnungen und inhomogenen Polarisationsspannungen unterworfen, wobei die Polarisationsspannungen die Fluktuationen des mikroskopischen Steifigkeitsfeldes der komplexen Mikrostruktur innerhalb des repräsentativen Volumenelements abbilden. Die entsprechenden mikroskopischen Dehnungen ergeben sich als Lösung einer Fredholm-Integralgleichung. Sie liefert einen multilinearen Operator,der die homogenen Hilfsdehnungen mit den mikroskopischen Dehnungen verknüpft. Dieser Operator und die zuvor genannte Verknüpfung erlauben schließlich die Vervollständigung desModells in Bezug auf den Konzentrationstensor und die Quantifizierung der homogenisierten Steifigkeit. Beispielhaft wird eine Mikrostruktur mit harmonisch fluktuierender Steifigkeit homogenisiert. Mit Hilfe der Lösung der Poisson-Gleichung werden die entsprechenden singulären Faltungsintegrale ausgewertet. Diese Auswertungsstrategie wird abschließend durch eine Cauchy-Hauptwertanalyse verifiziert.Kapitel 4 bezieht sich auf die Mikromechanik von Verbundwerkstoffen mit mehreren Phasen unterschiedlicher Form, die in eine Matrixphase eingebettet sind. Das populäre Mori-Tanaka-Schema liefert bei Homogenisierung solcher Materialien unsymmetrische homogenisierte Steifigkeitstensoren. Letztere müssen explizit symmetrisiert werden. In der vorliegenden Dissertation werden die Auswirkungen solcher Symmetrisierungstechniken auf die Konzentrationstensoren untersucht, d.h. Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen makroskopischen Verzerrungen, die einem repräsentatives Volumenelement eines mikroheterogenen Materials eingeprägt werden, und den mikroskopischen Phasenverzerrungen, die sich innerhalb der Materialmikrostruktur einstellen. Dabei wird die wichtige Idee von Mori und Tanaka übernommen,die Phasenverzerrungen durch die homogenen Dehnungen innerhalb Eshelbischer Inhomogenitätenzu approximieren, die jeweils in eine unendliche Matrix eingebettet sind, wobei die Phasenverzerrungen die Verzerrungsmittelungsregel erfüllen. Der vorgeschlagene Ansatz sieht jedoch davon ab, die Verzerrung in der Matrixphase als jene Hilfsverzerrung zu identifizieren,die im Unendlichen der Matrix der Eshelbischen Matrix-Inhomogenitätsprobleme auferlegt ist.Stattdessen wird ein Umwandlungstensor eingeführt, um einen multilinearen Zusammenhang zwischen den Hilfsdehnungen und den makroskopischen Verzerrungen, die einem repräsentativen Volumenelement eines mikroheterogenen Materials eingeprägt sind, herzustellen. Die homogenisierte Steifigkeit wird ausgedrückt als (i) eine Funktion des Umwandlungstensors,der die oben erwähnte multilineare Beziehung quantifiziert, und (ii) als die symmetrisierte Mori-Tanaka-Abschätzung. Auf diese Weise können der Umwandlungstensor und alle Phasenkonzentrationstensoren so bestimmt werden, dass die elastische Gesamtsteifigkeit symmetrisch bleibt.Kapitel 5 widmet sich der hydratationsgetriebenen Entwicklung der Volumenanteile der mikrostrukturellen Bestandteile von Portlandzementsteinen im frühen Materialalter. Die Studie basiert auf Ergebnissen von Protonen-Kernmagnetresonanz-Relaxometrie (1H NMR)-Tests aus der Literatur. Diese Daten bieten quantitativen Einblick in die Entwicklung der Wasserstoffmengen, die in Kalziumhydroxid, in Kalzium-Silikat-Hydraten, sowie in Kapillarund Gelwasser gebunden sind. Dieser Einblick motiviert einen Paradigmenwechsel hinsichtlichder Variable, mittels der die Entwicklung von Phasenvolumenanteilen im frühen Materialalter beschrieben wird. Einschlägige Entwicklungsansätze basieren auf dem Hydratationsgrad. Letzterer entspricht dem Prozentsatz an Zementklinker, der sich in Wasser aufgelöst hat. In der vorliegenden Arbeit wird der Ausfallgrad eingeführt. Er ist gleich dem Anteil des in Festkörperbestandteilen gebundenen Wasserstoffs dividiert durch die Gesamtmenge an Wasserstoff im Material. Mischungs-, lagerungs- und temperaturinvariante Ausfallcharakteristiken finden sich bei der Darstellung der 1H NMR-Signalanteile als Funktion des Ausfallgrades. Letzterer erscheint als die Zementsteinentwicklung quantifizierendes Argument in Funktionen für die Volumsfraktionen seiner Bestandteile. Diese Funktionen hängen auch von der Ausgangszusammensetzung (anfängliches Wasser-zu-Zement-Massenverhältnis), den Lagerbedingungen (entweder versiegelte Aushärtung oder Unterwasserlagerung) und der Aushärtungstemperatur ab.Kapitel 6 widmet sich der Modellierung des befeuchtungsinduzierten makroskopischen Schwellens von ausgehärtetem Zementstein mittels eines mehrskaligen poromechanischen Ansatzes unter Berücksichtigung von Eigendehnungen. Zementstein wird durch Matrix-Inklusions-Komposite auf vier verschiedenen Maßstäben dargestellt. Diese Komposite bestehen aus übriggebliebenem Zementklinker, Kalziumhydroxid, Kapillarporen, Gelporen und Kalzium-Silikat-Hydraten. Zugehörige experimentelle Daten umfassen Adsorptionsisotherme und makroskopische Schwellmessungen aus der Literatur. Im Rahmen der Modellierung wird angenommen,dass die Radien der kugelförmigen Gel- und Kapillarporenpopulationen durch Exponentialverteilungen beschrieben werden können. Letztere werden mittels Adsorptionsporosimetrie identifiziert. Dies ist die Grundlage für eine poromechanische Analyse. Die durch Befeuchtung induzierte Änderungen des effektiven Porendrucks von Gel- und Kapillarporen werden quantifiziert und auf die Makroskala von Zementstein hochskaliert. Dies erklärt die gemessene makroskopische Schwellung nur teilweise. Daher wird der Modellierungsansatz durch die Einbeziehung eines weiteren nanoskopischen Prozesses bereichert: Adsorptionsinduzierte Quellung von nanoskopischen Kalzium-Silikat-Hydraten, modelliert in Form von Eigenspannungen die sich als Funktion der relativen Feuchtigkeit entwickeln. Diese Beziehung wird mittels experimenteller Daten identifiziert, die sich auf ausgereiften Zementstein mit einem anfänglichen Wasser-zu-Zement-Massenverhältnis von 0,40 beziehen. Die identifizierte Beziehung wird sodann getestet, in dem sie zur mikromechanischen Vorhersage der makroskopischen Quellung von reifem Zementstein mit einem anfänglichen Wasser-zu-Zement-Massenverhältnis von 0,55 herangezogen wird. Die Ergebnisse sind zufriedenstellend und unterstreichen, dass sorptionsinduziertenanoskopische Volumenänderungen von Kalzium-Silikat-Hydraten signifikant zu entsprechenden makroskopischen Volumenänderungen von reifem Zementstein beitragen.